Vorwort
Diese Seite behandelt das letzte Kapitel eines Buches meines Lieblingsautors Stanislaw Lem. Es handelt sich um die 26. Reise des Raumfahrers Ijon Tichy aus dem Buch „Sterntagebücher“. Ich hatte dieses Buch voll untergründigem Humor in der Ausgabe von 1953 gelesen und fand es von Anfang bis Ende wunderbar. Am besten allerdings gefiel mir die 26. Reise, die aber in späteren Ausgaben nicht mehr auftauchte. Warum nicht, kann man bei WIKIPEDIA nachlesen. Weil mir bei einem Umzug mein eigenes Exemplar leider abhanden kam, habe ich Jahre gebraucht, um es wiederzubeschaffen, allein wegen der 26. Reise. Ich habe mir von S.Lems Rechtevertretern die Erlaubnis geholt, über diese Reise zu schreiben und auch auszugsweise zu veröffentlichen. Dies kann man aber nicht wirklich zielführend machen, weil dann der Zusammenhang verlorengeht und dieses Kapitel auch quasi ein Gesamtkunstwerk darstellt. Es wäre ungefähr so, als ob man eine Statue vorstellt, aber den Kopf abschraubt. Deshalb gibt es hier die ganze Geschichte.
Stanislaw Lem
Die Sterntagebücher des Weltraumfahrers Ijon Tichy
SECHSUNDZWANZIGSTE UND LETZTE REISE
Fünfzehn Jahre waren vergangen, seit ich die Erde verlassen hatte, und mein Heimweh wurde fast unerträglich; so faßte ich auf Teropien, einem drittrangigen Planeten im Sternbild des Wals, den Entschluß, die heimatlichen Gefilde wieder aufzusuchen. Als ich jedoch in den Raketenhafen kam, fand ich dort eine ansehnliche Schar Reiselustiger vor, die in brütendem Schweigen das Kommunique am Aushang der Kosmischen Navigatiomszentrale lasen. Die Bekanntmachung besagte, daß ein Schwarm großer Meteore in die Raketenroute eingedrungen sei. In Erwartung einer Wetterbesserung verbrachte ich die Tage im Kreise von Gefährten, die mir der Zufall beschert hatte. Unter ihnen war ein junger Prahlhans, der jedem, der es hören mochte, Geschichten über Planeten erzählte, die er besichtigt haben wollte. Auf den ersten Blick war ich mir klar darüber, daß er ein ganz gewöhnlicher Betrüger war, und nagelte ihn samt seinen Lügen fest, sobald sich Gelegenheit dazu bot. Er hatte die Stirn, in meiner Gegenwart von angeblichen Bewohnern des Planeten Borelia im Sternbild des Orion zu berichten; so behauptete er, dort lebten Ungeheuer, die groß wie Berge seien und Schlurfe hießen wegen ihrer unerhört langsamen Lebensvorgänge infolge der niedrigen Temperaturen und der Vereisung des Planeten. „Stellen Sie sich vor, meine Herren“, rief er aus, „zu der Zeit, da in Ägypten König Amenophis der Sechste aus der Thebanischen Dynastie herrschte, treffen sich auf der Borelia zwei Schlurfe. -Der eine fragt: ,Wie geht’s?‘ Dann werden die Pyramiden gebaut, Alexander der Große erobert Asien und gelangt an den Stillen Ozean, Griechenland wird durch Rom abgelöst, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation entsteht, die Kreuzzüge werden inszeniert, der Islam rennt gegen die Christenheit an, dann folgen die Kriege der Weißen und der Roten Rose, der Dreißigjährige Krieg und der Hundertjährige Krieg… Doch der andere Schlurf hat noch immer nicht geantwortet, und erst als die Franzosen bei Sedan von den Deutschen geschlagen werden, entgegnet das Ungeheuer auf der Borelia: ,Es geht.‘ So unvorstellbar langsam verläuft das Leben dieser erstaunlichen Geschöpfe; ich sage das mit ruhigem Gewissen, denn ich habe sie selbst gesehen und untersucht.“ Hier war ich mit meiner Geduld am Ende. „Was Sie uns da erzählen“, sagte ich kalt, „ist eine schändliche Lüge.“
Und da sich aller Blicke mir zuwandten, erläuterte ich: „Alexander der Große ist nie bis an den Stillen Ozean gekommen, denn er ist, wie jeder weiß, im Jahre 325 vor unserer Zeitrechnung auf halbem Wege umgekehrt.“
Es hagelte Beifall; von jetzt an erntete der Lügner nur noch Verachtung. Unter den Anwesenden weilte ein Greis von ehrfurchtgebietendem Aussehen; er kam auf mich zu und drückte mir seine Anerkennung für mein energisches Auftreten im Dienste der Wahrheit und Exaktheit aus, wonach er sich als Professor Tarantoga vorstellte. Ich war über alle Maßen erfreut, hatte uns doch ein glücklicher Zufall endlich zusammengeführt. Bis zur Abreise blieben wir nun untrennbar. Die Zeit verstrich angenehm in trautem Gespräch; der Professor erzählte, was er bei den Gorgoten im Eridansystem erlebt hatte, berichtete über seine Forschungen bei den Mäulchen, jenen eigenartigen Organismen auf der Panteluse, wohl den geschwätzigsten Pflanzen im ganzen Kosmos, zeigte mir auchFotos von Wackerleidern. Diese bewegen sich auf eine Weise, die man nirgends kennt, indem sie ihren Leib bei jedem Schritt einmal nach links, einmal nach rechts wälzen. Ich wiederum gewährte dem Professor Einblick in die Forschungsergebnisse von meinem zweijährigen Aufenthalt auf Stredogentien: Die Bevölkerung dort setzt ihre Toten im Himmel bei; sie werden nämlich in stromlinienförmige Särge gesteckt und mit hoher Geschwindigkeit in den Weltraum geschossen. So ist der ganze Planet von Grabmälern umgeben, die ihn als kleine Satelliten in Schwärmen umkreisen. Natürlich behindert der Friedhof die Raumschiffahrt ganz erheblich. Zum Dank für diese Information schenkte mir der Professor die Kopie seines noch unveröffentlichten Werkes über den Planeten Meopsera und die Mucken, seine vernunftbegabten Bewohner. Er wußte mir so viel über ihre geradezu unheimliche Menschenähnlichkeit zu berichten, daß ich nicht übel Lust hatte, die Meopsera zu besuchen. Eine Weile schwankte ich noch, meines Heimreiseplans eingedenk, zu guter Letzt aber siegte in mir der Forscher über den Privatmann. Die Prognosen der Kosmischen Navigationiszentrale lauteten nunmehr auf ausgezeichnetes Wetter, so daß ich mich herzlich von Tarantoga verabschiedete und Vorbereitungen für den Start traf. Versehen mit allem Nötigen kaufte ich noch in der Buchhandlung am Flughafen eine Karte der Himmelsgegend, in der die Meopsera liegt. Leider gab es kein neues Exemplar und so mußte ich mit einem gebrauchten vorliebnehmen. Der unglückliche Zufall wollte, daß ich es gerade in der Nähe der Meopsera bis zur Unkenntlichkeit abgewetzt fand, da das Papier an dieser Stelle gefaltet war. Im Vertrauen auf meine Erfahrung zeichnete ich einfach mit dem Lineal den geradesten Sternenkurs ein und brach auf. Die Reise sollte lange dauern, also nahm ich eine Menge Bücher an Bord, um mir die Zeit durch Lesen zu verkürzen; es waren Werke wissenschaftlichen Inhalts und Reiseberichte: Transgalaktische Expeditionen, Theorie der Kosmodromie, Astronautik als Sport und Erholung und ähnliches. Je mehr ich mich in die Lektüre vertiefte, desto mehr wuchs mein Groll auf die Autoren; schließlich war ich durch ihre Schlamperei, durch die häufigen Fehler und Verdrehungen, ja selbst Lügen, so aufgebracht, daß ich beschloß, diesen bejammernswerten Zustand radikal zu ändern. Und ich ging in der mir eigenen Impulsivität unverzüglich ans Werk. Auf diese Weise also wurde das vorliegende Tagebuch geboren. Ich schrieb vier Wochen hindurch, Tag und Nacht, und legte selbst dann die Feder nicht aus der Hand, wenn der Schlaf mich übermannte. Die Arbeit nahm mich so sehr gefangen, die Landschaften der Planeten erstanden in so lebhaften Farben vor meinen Augen, und die wimmelnde Menge der Gestalten, die dauernd meinen Schreibtisch umlagerte, war so darauf erpicht, mir die Seiten zu füllen, daß ich ganz vergaß, wo ich war und wohin ich flog. Eines Nachts riß mich eine heftige Erschütterung aus einem kurzen, aber tiefen Schlaf: Ich war eingenickt, als ich meine Stirn auf den Stoß bekritzelter Blätter vor mir stützte. Erschrocken stürzte ich ans Fenster. Draußen herrschte Finsternis. Ich untersuchte die Rakete von innen, stellte aber fest, daß sie unbeschädigt war, und nahm an, ein Meteor habe sie gestreift. Mein Schlafbedürfnis war indes wie weggeblasen, und ich setzte mich wieder an die Arbeit. Viele Stunden schrieb ich so, da merkte ich plötzlich, daß es immer heller um mich wurde, und trat von neuem ans Fenster. Wie groß war mein Erstaunen, als ich weite, in üppigem Grün stehende Felder erblickte und darüber einen Himmel, rosig im Morgenrot. Flugs öffnete ich die Luke. Es wurde zusehends heller, hoch droben schwammen Wolken, ein leis rauschender Wind zauste sacht die Bäume. Meine Rakete hatte sich bei dem ungestümen Aufprall bis zur Hälfte in den sandigen Hügel gebohrt. So war ich denn, ziemlich überraschend für mich selbst, auf der Meopsera gelandet. Lächelnd schüttelte ich den Kopf über diese Zerstreutheit, verwahrte das „Manuskript“ im Sekretär und verließ die Rakete, um nach den Bewohnern des fremden Himmelskörpers Ausschau zu halten.
Als ich einen sanft ansteigenden, mit niedrigen Pflänzchen bewachsenen Hügel überquert hatte, gelangte ich auf eine Art pfeilgerade breite Straße. Ich folgte ihr und genoß den frischen Morgen in vollen Zügen. Als ich mich so in der Gegend umsah, konstatierte ich, daß Professor Tarantoga leicht übertrieben hatte: Der Planet war in der Tat der Erde ähnlich, aber sein Himmel war blasser, keineswegs so blau wie bei uns. Auch schien die Form der Wolken von der unseren abzuweichen.
In einer Kurve tauchte ein Wesen auf. Als es sich hinreichend genähert hatte, stellte ich fest, daß sein Äußeres stark an einen jungen Mann erinnerte; hierin mußte ich Tarantoga recht geben. Nachdem ich mir diese Beobachtung notiert hatte, ging ich dem Ankömmling entgegen, beugte leicht die Knie, drehte mit gespreizten Händen einen Kreis — eine in den südlichen Breiten der Galaxis übliche Begrüßungsform und fragte, ob ich mich auf der Meopsera befände und mit einem Muck die Ehre hätte. Das Geschöpf riß die Augen auf, wich zwei Schritte zurück und versetzte: „Wie bitte? Kann nichts verstehen.“ Die Sprache, in der mich das Geschöpf anredete, kannte ich; aber es mir wollte nicht einfallen, in welchen Himmelsgegenden sie gesprochen wird. Bei einem Menschen wie mir, der die Mundarten von nahezu dreihundert galaktischen Stämmen beherrscht, ist das durchaus verständlich. Aber obschon ich nicht mehr wußte, wo man sich dieser Sprache bedient, konnte ich mich doch darin verständigen. Ich fragte also, ob ich auf der Meopsera sei, und wiederholte die kreisenden Handbewegungen, um meine freundlichen Absichten zu demonstrieren. Da ging das Geschöpf rückwärts, drehte sich unvermittelt um und raste in gewaltigen Sätzen davon. Kaum eine Minute später war es meinen Blicken bereits entschwunden. Ein scheues Exemplar, dachte ich, notierte das Beobachtete und schritt weiter aus. Bald begegnete ich einem zweiten Geschöpf; es kam ebenfalls die Straße entlang, war aber bedeutend kleiner als das erste, ganz offensichtlich noch nicht ausgereift, und stieß laute Schreie aus — wohl etwas wie Gesang während es eine Art bemalten Holzreifen vor sich hertrudelte. Als ich dieses Individuum genauso ansprach. wie das erste, da erstarrte es und antwortete nicht. Ich wiederholte Frage und Gruß, da kauerte es sich nieder, steckte die beiden kleinen Finger in den Mund und zerrte diesen bis an die Ohren auseinander. Gleichzeitig bewegte es die freien Finger vor dem Antlitz, als spielte es auf einem unsichtbaren Instrument, richtete sich dann auf und schlug sich unter lautem „Mäd-mäd!“-Geschrei in die Büsche. Soweit ich mich erinnern konnte, bezeichnet „mäd“ einen Besessenen. Ich notierte also, daß hier die Geistesgestörten ungehindert auf offener Straße herumlaufen und die Passanten durch lautes Schreien vor ihrem Zustand warnen. Dann setzte ich meinen Weg fort. An einem Teich ein paar Kilometer weiter hockte ein Geschöpf, das in grün, blau, lila und orange gestreiften weißen Stoff gekleidet war. Es fing mit einem angelähnlichen Gerät Fische. Ich näherte mich vorsichtig, bemüht, in Haltung und Bewegungen freundlich zu erscheinen, und fragte, ob ich mich auf der Meopsera befände. Das Wesen sah mich prüfend an. „Was soll der Scherz? Was für Meopsera? Hier ist Merekä.“
„Wie?“ fragte ich nochmals. Einen solchen Planeten kannte ich nicht. „Merekä. Wo kommst du her?“ „Ich bin unlängst zugereist“, erwiderte ich ausweichend; ich wußte aus Erfahrung, wie mißtrauisch Bewohner von Planeten manchmal gegenüber Fremden sind. „Und wer bist du?“ erkundigte ich mich. „Ich? Der Dok hier am Ort.“ Ich ließ mich neben dem Individuum nieder und forschte es nach verschiedenen Dingen aus. Es sprach so rasch und so undeutlich, daß ich die Hälfte nicht verstand, alles in allem bekam ich jedoch heraus, daß der Planet, auf dem ich gelandet war, tatsächlich Merekä hieß und seine Bewohner sich Merkaner nannten; Dok das war ein Beruf, etwa soviel wie Arzt.
Dieses dritte Geschöpf war freundlicher; hinter einem Hügel stand sein Fahrzeug, und das Individuum erbot sich, mich in die nahegelegene Siedlung zu fahren, was ich freudig annahm. Unterwegs beantwortete der Dok meine Fragen, so daß ich mir in groben Zügen ein Bild von den Verhältnissen auf der Merekä machen konnte. Die Merkaner haben eine hochentwickelte Zivilisation; in der Nähe der Merekä kreisen zahlreiche andere Planeten, wie zum Beispiel Tschaina und Rascha; zwischen der letztgenannten und Merekä sei Feindseligkeit ausgebrochen. Mit diesen Daten mußte ich mich begnügen, denn wir hatten die Siedlung erreicht. Hier schenkte mir der Dok als Andenken einige auf dem Planeten gebräuchliche Zahlungsmittel und steckte mich nach Erledigung der Formalitäten in ein eisernes Vehikel, das zur Metropole Njuoak fuhr. In der Kabine dieses Fahrzeugs befanden sich bereits mehrere Geschöpfe. Eines von ihnen, ein betagtes/glatzköpfiges Exemplar, saß mir gegenüber. Dieses Männchen ruderte immerfort mit den Armen und redete pausenlos, wobei es mich mit Speichel bespritzte, was ich geduldig ertrug. Ich suchte eifrig etwas zu erlauschen; bei der undeutlichen Aussprache war das aber nicht so einfach. Ich erfaßte nur Bruchstücke; .jedenfalls bekam ich mit, daß auf der Merelcä verschiedenfarbige Wesen leben schwarze, weiße, rote und sogar grüne; diese letzte Tatsache ging aus einer Äußerung des Glatzkopfes hervor: „Was, mein Kompagnon? Aber der ist doch völlig grün!“
Das Männchen berichtete, daß es im Überfluß leben könne, denn es habe ein neues, sehr starkes Gift erfunden.
„Getreide verbrennen oder ins Meer versenken“, sagte es, „ist viel zu kostspielig und umständlich. Mein Mittel macht das in zehn Sekunden; eine viertel Tasse reicht für sechs Sack Getreide oder Obst; man besprengt das Ganze, und die Sache ist erledigt. Sollte es einer zu essen versuchen, fällt er auf der Stelle um.“
Ich war so verblüfft, daß ich fragte, ob bei ihnen das Vernichten von Lebensmitteln ein Unterhaltungsspiel oder ein nationaler Brauch sei. Alle richteten ihre Blicke auf mich, und das Männchen fing an, so heftig mit den Armen zu fuchteln, und stimmte ein solches Kreischen an, daß ich nichts weiter verstand als „Rascha“ und „Propaganda“; dabei ging ihm die Luft aus, und es schwitzte. Da ich dieses aggressive Exemplar nicht noch mehr reizen wollte, verstummte ich. Eine Zeitlang herrschte Schweigen, dann kam das Gespräch wieder in Gang. Ein neues Wort tauchte auf. „Ejbom“. Aus dem ehrfurchtsvollen Ton, in dem sie es aussprachen, folgerte ich, es müsse eine Gottheit sein; sie verehren sie in Gestalt einer Feuer- und Rauchsäule, die vom Himmel herabsteigt. Das schien mir eine Analogie zu Jehova im Alten Testament zu sein, und ich machte mir die entsprechenden Notizen, doch dann erwähnten sie Menschenopfer, und ich notierte, der Gegenstand ihres religiösen Kultes sei ein fürchterlicher blutrünstiger Götze, etwa in der Art des babylonischen Baal. Das soeben Gehörte beunruhigte mich sehr, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Endlich kamen gigantische, himmelwärts strebende Türme in Sicht: Njuoak war erreicht. Über der Station hing ein Dach aus Metall, von allen Seiten fauchten, pfiffen und zischten Tausende von Maschinen; Ströme von Merkanern ergossen sich aus den pausenlos eintreffenden Vehikeln und drängten hastig dem Ausgang zu. Ich schloß mich ihnen an; in dem Ge schiebe wurde ich fortgesetzt gestoßen, die Straße, auf die ich trat, war voll dahinsausender Fahrzeuge und Fußgängermassen. Ich hatte noch nicht dreihundert Schritt zurückgelegt, da zerriß entsetzliches Sirenengeheul die Luft; gleichzeitig ergriffen alle Merkaner unter dem Schrei „Ejbom! Ejbom!“ die Flucht. Die Fahrzeuge hielten, dafür rasten große rot und silbrig gestreifte Wagen über die Straßenmitte, aus denen eine machtvolle Stimme alle Passanten aufrief, zwecks Ehrenbezeigung vor dem Ejbom aufs Gesicht zu fallen. Das erinnerte mich noch stärker an den Kult des Baal, jenes schrecklichen ehernen Götzen: Bekanntlich forderten die Priester aus seinem hohlen Innern das Volk auf, ihm blutige Opfer zu bringen. Die Straße hatte sich entvölkert. Wie vor den Kopf gestoßen, irrte ich, Schlimmes ahnend, in die eine, dann in die andere Richtung. Mehrere hundert Schritt von mir entfernt hielt an einer Kreuzung ein großes Fahrzeug; vier schwarzgekleidete Individuen in Gasmasken warfen einen langen Metallzylinder aufs Pflaster und steckten seinen Inhalt in Brand. Mächtige schwarze Rauchwolken schossen hervor und hüllten die ganze Umgebung ein. Ich begriff, daß die Priester die Stelle beweihräucherten, an der nach ihrer Meinung der Ejbom herabsteigen würde, und legte mich in Erwartung der Dinge, die .da kommen sollten, auf den Bauch, um die religiösen Gefühle der Priester nicht zu verletzen. Etwa eine Minute später vernahm ich nahendes Sirenengeheul. Ein langes, niedriges Vehikel hielt neben mir; fünf schwarze Priester in Gasmasken stürzten heraus. Der oberste rief: „Sehr gut, das ist die vorgeschriebene Stellung.“ Zwei andere packten mich an den Schultern und hoben mich hoch, der vierte heftete mir ein kleines beschriftetes Rechteck an die Brust. Ich versuchte, mich zu wehren, da schrie der fünfte Priester, der abseits stand und die Szene durch die schwarzen Gläser seiner Maske beobachtete, mit schneidender Stimme: „Du bist eine Leiche, runter mit dir!“ „Ich bin doch keine Leiche!“ protestierte ich erschrocken.
„Mach keinen Quatsch! Sofort legst du dich hin!“ brüllte mich der Priester an. Er gab den anderen einen Wink, die warfen mich mit Gewalt nieder und banden mich an ein Gerüst, das aus zwei Stangen und einem Tuch bestand. Ich begriff, daß mein letztes Stündlein geschlagen hatte, und wehrte mich mit ganzer Kraft. Da knackte etwas in meiner Hand, ich spürte einen stechenden Schmerz und gab den Kampf auf. Die Priester packten das Gerüst und hievten es mitsamt meiner Last ins Vehikel. Eine Zeitlang blieb es still, dann hörte ich nahebei jemand schreien und die Geräusche eines Handgemenges: Das zweite Opfer war gefangen. Gleich darauf wurde ein Merkaner über mich geschoben, ebenso gefesselt wie ich. Dann rief der oberste Priester: „Ein Toter und ein Lebender mit Verbrennungen dritten Grades, dreihundert Meter vom Punkt Null, los weiter.“ Das Vehikel heulte auf und sauste in rasendem Tempo davon. Ich konnte nicht sprechen. Bei dem Gedanken, daß ich auf so tragische Weise enden sollte, stiegen mir die Tränen in die Augen. Schließlich fragte ich meinen Leidensgefährten, was aus uns würde. „Zum Teufel damit“, antwortete der, „ein halber Tag geht wenigstens wieder drauf, uns steht ja noch eine ganze Zeremonie bevor: Waschen, Baden – ein Greuel!“
Ich erbebte. Es gab keine Zweifel mehr: Die Azteken verfuhren mit ihren auserwählten Opfern ähnlich. „Werden sie uns sehr … martern?“ fragte ich. „Es reicht. Mir passiert das diesen Monat schon zum zweitenmal. Aus der Haut fahren möchte man.‘ Freiheit, verdammt!“
Der Umstand, daß jener Merkaner bereits eine Opferzeremonie überstanden hatte, gab mir eine leise Hoffnung. Ich wollte wissen, was man mit uns vorhatte, doch um seine religiösen Gefühle‘ nicht zu verletzen, fragte ich erst vorsichtig, ob er gläubig sei. „Allerdings“, erwiderte er, „warum fragen Sie?“ „Ach, nichts“, entgegnete ich, „ich wollte nur wissen, was jener Ritus mitten auf der Straße bedeutet.“ Er blieb lange stumm, schließlich fragte er verwundert zurück: „Sagen Sie mal, sind Sie ausgebrochen? Sie sind wohl nicht von hier? Zugereist, aus der Provinz, wie? “
„Ja“, erwiderte ich, „ich komme aus der galaktischen Provinz; ich bin noch nicht lange im Lande und kenne Ihre Sitten nicht. Nehmen Sie mir also meine Frage bitte nicht übel. Ist Ejbom euer Gott, sollen wir ihm geopfert werden?“
Der Merkaner über mir lachte schallend, hielt inne und wetterte los: „Ein Witzbold sind Sie, aber das stimmt. Ejbom ist unser Gott, aber seine Herrschaft hängt uns schon zum Halse
Dann rief der oberste Priester: „Ein Toter und ein Lebender mit Verbrennungen dritten Grades, dreihundert Meter vom Punkt Null, los, weiter.“
„Ja“, erwiderte ich, „ich komme aus der galaktischen Provinz; ich bin noch nicht lange im Lande und kenne Ihre Sitten nicht. Nehmen Sie mir also meine Frage bitte nicht übel. Ist Ejbom euer Gott, sollen wir ihm geopfert werden?“ Der Merkaner über mir lachte schallend, hielt inne und wetterte los: „Ein Witzbold sind Sie, aber das stimmt. Ejbom ist unser Gott, aber seine Herrschaft hängt uns schon zum Halseraus. Wenn ich bedenke“ — er schnaubte vor Wut, „daß sie gerade mich fangen mußten, und das zum zweitenmal. Jede Woche wird diese Schweinerei gefeiert, man kann nicht mehr in Ruhe auf die Straße, überall Sirenen, Lärm, Panik, Rechtlosigkeit zum Verrücktwerden. Und was kommt dabei heraus? Die Angst wird immer größer! Na, da wären wir.“
Etwas flimmerte an der Scheibe, ein großes Tor öffnete sich, und wir standen auf dem Hof eines Riesengebäudes. Kaum hatte man mich aus dem Gefährt gezogen, da rief ich, meine Hand sei ausgerenkt; ich hoffte, das würde mich vor dem Verbrennen schützen, denn ich wußte aus der Geschichte, daß barbarische Stämme keine Kranken als Opfer darzubringen pflegen. Und wirklich, fünf Minuten später wurde ich in einen dunklen Raum gefahren, wo sich drei von Kopf bis Fuß weißgekleidete Geschöpfe meiner annahmen; ich begriff, daß sie Priester einer Gottheit waren, die Ejbom bekämpfte, denn sie erklärten, uns werde nichts geschehen. Ich bekam zu hören, daß die Speiche gebrochen sei. Man legte mir einen Verband an, und bald lag ich, gewaschen, kahlgeschoren und mit einem stark riechenden Öl eingefettet, im Saal; zusammen mit dreißig entsetzlich fluchenden Merkanern; Wie ich hörte, waren sie alle in ähnlicher Bedrängnis wie ich. Der eine hatte sich das Schlüsselbein gebrochen, ein anderer das Bein, ein dritter war auf der Treppe zur Untergrundbahn niedergetrampelt worden. Ein älteres Individuum sprang alle Augenblicke aus dem Bett und schrie, es habe zu Hause ein kleines Kind alleingelassen und das Feuer nicht gelöscht; doch sie ließen es nicht weg.
Bald nahte ein Wesen in weißem Kittel, zupfte mein Kissen zurecht und erklärte: „Nehmen Sie es nicht tragisch, wir haben jedesmal wenigstens sechzig solcher Fälle. Vergangenen Monat wurden drei Greisinnen zu Tode gequetscht. Sie können jetzt schlafen, bitte geben Sie mir nur Ihre Adresse, damit ich die Rechnung schicken kann.“
Da mir keine Ausrede einfiel, schützte ich Kopfschmerzen vor. Als ich allein war, überschlug ich in Gedanken noch einmal all das Außergewöhnliche, das ich in so kurzer Zeit erlebt hatte; auf keinem der tausend Planeten, die ich besuchte, war mir jemals so etwas begegnet. Am Nachmittag stürzten zwölf oder fünfzehn erwachsene Merkaner in den Saal. Sie umringten die Betten und fragten nach unseren Eindrücken. Einer von ihnen interessierte sich besonders für mich als Ausländer. Wir stellten einander Fragen. Von ihm erfuhr ich, daß es nur die Erprobung eines Atombombenangriffs gewesen war, was ich für einen religiösen Ritus gehalten hatte. „Wie, ihr führt Krieg mit einem anderen Planeten?“ fragte ich. „Nein.“ Wozu dann diese Übungen?“ „Weil wir. bedroht werden.“
„Aha, ich weiß!“ Die Worte des Dok fielen mir ein. „Rascha bedroht euch, nicht wahr?“ „Ja.“
„ Schrecklich. Rascha hat diese Waffe geschaffen, wie? “ „Nein, es ist unsere Erfindung.“ „Ach so“, meinte ich, „Rascha bedroht euch aber? Könnt ihr euch nicht irgendwie mit ihr verständigen? Zum Beispiel das Verbot dieser Waffe fordern?“
„Diesen Vorschlag gab es schon.“ „Na und?“
„Er wurde abgelehnt.“
„Ich verstehe, Rascha ging nicht darauf ein.“ ‚ „Nein, wir verwarfen ihn.“ „Weshalb?“
„Weil wir bedroht sind.“
„Ich verstehe“, sagte ich nach längerem Überlegen, „Rascha hat diese Waffe be’reits gegen einen anderen eingesetzt, und ihr fürchtet, daß sie nun …“ „Nein, wir haben sie als erste gebraucht. Wir zerstörten damit zwei Städte der Dschäps.“ „So? Aber jetzt droht euch Rascha sicherlich damit, die Bombe gegen euch anzuwenden?“ „Nein. Sie sagt, sie wünsche Frieden.“ „Frieden…? Das ist ein wenig seltsam“, sagte ich. „Gleich … jetzt hab ich’s: Sie sagt, sie wolle Frieden, führt aber gleichzeitig in allen Städten solche Atomschutzübungen durch, nicht wahr?“ „Nein“, erwiderte der Merkaner. „Ich war vor einem Monat dort; sie halten keine Übungen ab.“ „Sie tun das nicht?“ „Nein.“
„Warum aber macht ihr das dann?“ „Weil wir bedroht sind.“ „Ja, von wem denn?“
„Ich habe es dir doch schon gesagt. Von Rascha.“ „So?“ erwiderte ich. „Ich muß gestehen, ich begreife das nicht mehr. Offenbar ist eure Logik anders als die irdische.“
Ich hatte bemerkt, daß ein niedriges Individuum seit geraumer Zeit unserem Gespräch lauschte; bei den letzten Worten meines Partners war es irgendwo verschwunden.
Als die Besucher gegangen waren, sagte mein Bettnachbar zu mir: „Sie sind recht unvorsichtig; von solchen Dingen darf man nicht sprechen, das kann Kopf und Kragen kosten.“
Ich hatte noch keine Antwort gefunden, da trapsten vier baumlange, dunkelblau uniformierte Merkaner in den Saal, befahlen mir aufzustehen und ihnen zu folgen. Ein weißes Geschöpf, das eben hereinkam, suchte mich zu schützen: Ich sei krank und hätte mir den Arm gebrochen. Aber das half nichts. Ich wurde in aller Eile angekleidet und nach unten geführt, wo bereits ein schwarzes Vehikel wartete. -Wir brausten mit Windeseile davon, in wenigen Minuten waren wir am Ziel. Man brachte mich in ein Gebäude, in dem ungeheurer Betrieb herrschte. Als ich eine Zeitlang gewartet hatte, wurde ich in einen hellen Raum gestoßen.
An einem Schreibtisch saßen dort drei Merkaner. Der größte von ihnen verlangte meine Papiere.’Als er sie überflogen hatte, geriet er in Wallung, knallte die Faust auf den Tisch und schrie: „Sind Sie Merkaner?“
„Nein“, erwiderte ich, „ich bin Mensch.“ „Die Scherze werde ich dir noch austreiben!“ brüllte er. „Wie kommst du hierher?“ „Ich bin erst kürzlich eingetroffen …“ „Eingetroffen? Dich Vogel hätten wir. Leg ein Geständnis ab!“
„Was? Was soll das bedeuten?“ rief ich. „Keine Ausflüchte, das nützt dir nichts. Die Atombombe paßt ihm nicht! Hast du Spionage für Rascha getrieben?“
„Niemals!“ schrie ich. „Ich bin noch nie auf jenem Planeten gewesen…“
„Ich sage dir: Spiel hier nicht den Verrückten, sonst wirst du’s noch bereuen!“ grölte der Riese. „Was suchst du bei uns?“
„Ich war auf dem Fluge zu den Mucken auf der Meopsera, da jedoch meine Karte abgewetzt war, bin ich aus Versehen hier in Merekä gelandet…“ „Halunke!“ brüllte der Kerl. Plötzlich wurde er ruhig und sagte: „Wenn du erst gesessen hast, wird dir schon die Lust zu solchen Späßen vergehen. Du weißt genau, daß du dich hier nicht auf irgendeiner Merekä befindest, sondern in den Vereinigten Staaten, und zwar vor der Kommission zur Untersuchung antiamerikanischer Umtriebe. Erst kritisierst du unsere Außenpolitik, und dann spielst du das Unschuldslamm. Warte nur, ich werde dir noch die Flötentöne beibringen. Ich habe schon andere um den Finger gewickelt.“
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Seit ich dem ersten Geschöpf begegnet war, quälte mich der Gedanke, daß ich die Sprache kannte und nicht wußte, woher. Jetzt ging mir ein Licht auf: natürlich, das entstellte, verunstaltete Englisch! Die unterschiedliche Aussprache war schuld daran, daß ich einem Irrtum zum Opfer gefallen war! Merekä- das war ja America, Rascha — Russia, Tschaina — China, Ejbom — A-bomb und so weiter … Mir standen die Haare zu Berge; nie zuvor war ich in einer so verzweifelten Lage gewesen. Ich fühlte, daß mir mein Los nichts Gutes verhieß, und ich täuschte mich auch nicht; denn diese Worte schreibe ich aus dem Untersuchungsgefängnis in New York, wo ich mich nun schon den vierten Monat aufhalte. Ich fürchte, ich werde die Reise zur Meopsera auf unbegrenzte Zeit verschieben müssen…